aktionsgemeinschaft junge ärzte


                                                                                                                      Heidenheim, den 21.02.2009

Aufruf zum Zusammenschluss der Ärzte 2009

Forderungskatalog „Heidenheimer Entwurf“


Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Die Initiative für dieses Schreiben geht von einer bundesweiten Gruppe junger niedergelassener oder niederlassungswilliger Ärzte aus, die mit großer Sorge die Entwicklungen in unserem Gesundheitssystem beobachten und erfahren.
Mitunterzeichner sind alle Ärzte, die sich diesen Gedanken, Einschätzungen und Forderungen anschließen.

Der freie niedergelassene Arzt
Wir sind als Ärzte mit den Idealen angetreten, kranke Menschen zu heilen, ihr Leiden zu lindern und sie in ihrer Erkrankung zu begleiten. Wir fördern die Bürger in ihrem Gesundheitsbewusstsein und ihrer Lebenspflege. Wir sind Partner und Anwalt der Patienten. Wir werden dieser Verantwortung in der Patientenversorgung als niedergelassene Ärzte in eigener freier Praxis gerecht.
Eines der höchsten Güter des Menschen ist seine Gesundheit und diese liegt in unserer Obhut.


Schleichende Bedrohung: Budgetierung, Honorarverluste
Bis vor etwa 20 Jahren wurden die ärztlichen Aufgaben gewürdigt und honoriert. Die Ärzte erhielten für ihre Leistungen eine angemessene Vergütung. 1989 wurde die Budgetierung eingeführt. Budgetierung heißt unsinnige Leistungsbegrenzung, die sich nicht an den konkreten medizinischen Notwendigkeiten, das heißt an der Sache orientiert. Kein Handwerker ließe sich so etwas gefallen. Jede Leistung, die erbracht wird, muss honoriert werden. Alles andere ist absurd und wäre in der freien Wirtschaft undenkbar. Wir haben jedoch keine „Kunden“, die man stehen lassen kann, wenn sie nicht zahlen, sondern Kranke, die unserer bedürfen.
Das ist der Grund dafür, dass wir über Jahrzehnte die Einbußen hingenommen haben. Das ist der Grund dafür, dass wir vielleicht geredet, aber nicht gehandelt haben.
Inzwischen liegen die nicht bezahlten Leistungen je nach Praxisstruktur zwischen 30-50%. Bei einer durchschnittlichen Anzahl von chronischen Kranken ist z. B. allein durch die „Chronikerziffer“ und die Pauschale das Budget schon längst aufgebraucht. Jeder reguläre Hausbesuch ist umsonst, jeden zeitintensiven Patienten behandeln wir nach kurzer Zeit ohne Honorar. Und wer braucht einen Hausbesuch, wer braucht lange Gespräche? Es sind die kranken Versicherten, die Tumorpatienten: alle die chronisch oder schwer erkrankt sind.

Früher war das Ärztehonorar auf einem angemessenen Niveau. Doch in den letzten 20 Jahren fiel es kontinuierlich ab und das im Gegensatz zur allgemeinen Lohnentwicklung. Andere Berufsgruppen streiken Jahr für Jahr für Gehaltserhöhungen, die zwischen 5% und 15% Plus liegen. Unsere Standesvertretung versucht Gehaltseinbußen von nur 5% als Erfolg zu verkaufen (z. B. Baden Württemberg).

Gezielt traf es immer wieder einzelne Facharztgruppen, so dass es nie zu einem gemeinsamen Aufschrei, geschweige denn Aufstand kam. Es gab Interessenskonflikte und fehlende Gesprächsbereitschaft zwischen den verschiedenen Gruppierungen und Verbänden. Die Politik und die Kassenärztliche Vereinigung schürten Konkurrenz untereinander und nutzten die Uneinigkeit schamlos aus. Jede neue Änderung des EBM hat die Situation ein Stück verschlechtert. Hinzu kamen fachfremde Aufgaben, die immer mehr ausufern und die Ärzte absorbieren: Verwaltung und Bürokratie in einem kaum zu überbietenden Ausmaß, z. B. unter dem Deckmantel des sogenannten Qualitätsmanagements und bei Auseinandersetzungen mit den Krankenkassen, um die Rechte der Patienten zu wahren.

EBM 2009 - Nun geht es um die Existenz
Mit den Änderungen in diesem Jahr ist nun ein Niveau der Lohnentwicklung erreicht, das nicht mehr akzeptabel ist. Von der Politik wurden 10% Steigerung versprochen. Dafür wurden 2,7 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Bei uns Ärzten kommt jedoch in den meisten Bundesländern unter dem Strich nichts an, im Gegenteil: Wir haben gravierende Verluste! In bestimmten Fachgruppen sind es wenige Prozente, andere haben Honorareinbußen von 20-30%. Praxen müssen Personal entlassen, manchen droht der wirtschaftliche Ruin. Es gibt Unterschiede zwischen den Fachgruppen. Doch summa summarum sind wir alle Verlierer.
35 Euro Regelleistungsvolumen pro Patient (z.B. bei Hausärzten BW) pro Quartal, das sind nach Abzug der Betriebskosten (durchschnittlich 50%) 6 Euro brutto pro Monat pro Patient. Das ist eine Dumping-Gesundheitsflatrate, die für unsere Arbeit entwürdigend ist. Es ist eine Verspottung unseres Berufsstandes.
Auch die Verschiebung hin zur Bezahlung von Leistungen im Rahmen der Qualitätszuschläge (Sono, Ergo, Wundversorgung u. s. w) ist keine Lösung. Eine sinnvolle Sonographie soll angemessen vergütet werden. Aber es darf nicht dazu führen, dass wir zu Untersuchungen wirtschaftlich motiviert werden. Wir wollen nicht ins Hamsterrad. Wir wollen eine ausreichende Bezahlung der Grundversorgung und jeder einzelnen Leistung.

Und an dieser Stelle geht es nicht mehr nur ums Geld. Es geht um die Qualität der medizinischen Versorgung, die wir unter diesen Bedingungen nicht mehr halten können.


Zynismus der Politik
Ein Verständnis von Seiten der Politik ist von der Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt nicht zu erwarten. Sie wundert sich über die schlechte Selbstverwaltung der Ärzte (die KV´en), die das Geld zurückhalten würde und schiebt damit das Desaster von sich weg. Immer wieder vermittelt sie den Eindruck, dass die Ärzte „auf hohem Niveau jammern“. Geld würden sie doch genug verdienen.
Wirkliche Reformideen existieren bei ihr nicht. Die von ihr durchgeführten Veränderungen kosten viel Geld und bringen weder Gerechtigkeit noch eine bessere medizinische Qualität (z. B. e-Card und Gesundheitsfond). Für Kritik aus der Ärzteschaft hat sie kein Verständnis. Stattdessen umgibt sie sich unserer Meinung nach mit Lobbyisten.
Der bekannteste von ihnen ist Prof. Dr. med. Karl Lauterbach. Sein Institut wurde von der Pharmaindustrie gesponsert. Er selber ist Aufsichtsratsmitglied der Röhnkliniken, einem gewinnorientierten Klinikkonzern. Pro Jahr erhält er dafür zusätzlich zu seinem Bundestagsmandat 120.000 Euro (Zahlen von 2004, Report München 02.02.2004). Wie will er da unabhängig sein? Es sei  doch gar nicht so tragisch wäre, wenn die Ärzte weniger verdienen würden, soll er resümiert haben. Dann könnte man sie leichter in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) beschäftigen (Aufbau von MVZs ist erklärtes Ziel der privaten Klinikketten). Auf die Frage nach der drohenden Abwanderung von Ärzten aus Deutschland zeigte er sich unbesorgt. Man könne ja Ärzte aus dem Ausland rekrutieren.


Vertrauensverlust
Allzu gerne wird von der Politik die „Selbstverwaltung“ der Ärzte benannt, um die Verantwortung abzuwälzen. Doch eine Selbstverwaltung gibt es nur der Form nach. Die Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung haben sich von der Basis so weit entfernt, dass sich kaum ein niedergelassener Arzt von ihnen vertreten fühlt. In beschämender Weise müssen wir miterleben, wie wenig sie sich aktiv für unsere Belange einsetzten. Im Gegenteil sogar: sie fallen uns in den Rücken. Der Vorsitzende der Bundes-KV, Dr. Andreas Köhler, trat kürzlich mit Ulla Schmidt vor die Presse und kündigte Sanktionen gegen streikende Ärzte an. Als wirklicher Ärztevertreter hätte er sich an die Spitze der Streikbewegung stellen und sich auch an vielen anderen Stellen den Vorgaben der Politik verweigern müssen. Mit einem Jahresgehalt von über 240.000 Euro sind viele Funktionsträger der KV weit weg von den Sorgen und Nöten des niedergelassenen Arztes. Alle KV-Vertreter (bis auf eine Ausnahme) stimmten dem neuen EBM auf der Delegiertenversammlung der Bundes-KV zu!
Viele Kollegen beschreiben ein mulmiges Gefühl, wenn Sie einen Brief ihrer „Vertreter“ erhalten. Die KV ist keine Selbstverwaltung. Sie ist Erfüllungsgehilfe der Politik ohne eigenes Profil. Sie herrscht und teilt die Gelder nach Kriterien, die für alle völlig undurchsichtig sind.
Sie bestraft ihre „Zwangsmitglieder“ mit Regressen (Geldstrafen), wenn sie in ihrer Medikamenten- und Heilmittelverordnung aus der Norm fallen. Und Argumente, die begründen, warum die Verschreibungen notwenig waren, werden ignoriert. Gerade wenn ein Arzt Patientengruppen wie z. B. behinderte Mitmenschen behandelt, die aufgrund ihrer Erkrankung vermehrt medizinischen Bedarf haben, so ist ein Regress vorprogrammiert. Dabei liegen die Zwangssummen, die vollstreckt werden, zwischen Tausend Euro bis 400.000 Euro. In vielen Fällen ist dies dann existenzbedrohend. Es ist eine Benachteiligung von chronisch Kranken, die es inzwischen schwer haben einen Arzt zu finden. Welcher Arzt schreibt denn z. B. ein Blutdruckmedikament oder Krankengymnastik auf, wenn es nicht indiziert ist? Welcher Patient nimmt denn gerne ein Blutdruckmedikament ein, wenn es nicht notwendig ist oder geht gerne zur Krankengymnastik, wenn er nicht leiden würde? Ärzte müssen die Möglichkeit haben, das zu rezeptieren, was medizinisch nötig ist. Das jetzige System ist absurd. Diese Art von Geldstrafen sind menschenverachtend und moralisch verwerflich. Die Rahmenbedingungen hierfür sind von der Politik und den Krankenkassen zu verantworten. Doch die Kassenärztlichen Vereinigungen hätten sich weigern müssen sie auszuführen.

Zu wenig Geld da?
Die Politik vermittelt, dass kein Geld für die niedergelassenen Ärzte da sei. Jeder Cent, den wir zusätzlich bekämen, müsse direkt aus der Tasche der Bürger bezahlt werden. Dies ist eine völlig unzulässige Verknüpfung. Es ist Geld da, doch es versackt in unüberschaubaren Löchern und kommt gerade dort nicht an, wo die Leistungen vollbracht werden: bei den Ärzten, bei den Krankenschwestern und Pflegern und anderen medizinisch und therapeutisch Tätigen. Die Aufwendungen für die niedergelassen Ärzte liegen gerade einmal bei 15% der Gesamtkosten obgleich wir 90% der Patientenversorgung übernehmen.
Die Krankenkassen sind von Treuhändern der Beiträge ihrer Mitglieder zu eigenständigen Wirtschaftsunternehmen und Machtzentralen entartet. Es werden medizinische Entscheidungen von Krankenkassenangestellten gefällt oder von ehemaligen Ärzten, die jetzt als Erfüllungsgehilfen beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen arbeiten. Die Ansicht des Hausarztes oder Facharztes interessiert hier nicht.
Für die telefonische Beratung der Patienten durch Callcenter (geschieht durch nicht-ärztliche Mitarbeiter) wird von den Kassen ein Honorar von 120 Euro pro Quartal bezahlt. Das sind Summen, die sich ein niedergelassener Arzt nicht träumen lassen würde. Dafür ist Geld da! Jedoch für eine qualifizierte Versorgung durch Ärzte mit persönlichem Patientenkontakt fehlt jeder Cent. Bei einem Regelleistungsvolumen von 35,- Euro und einem geschätzten Fallwert von 40,- Euro würde ein Arzt für diese Bezahlung den Patienten ein dreiviertel Jahr lang behandeln!
Auf etwa 134.000 niedergelassene Ärzte kommen 120.000 Krankenkassenmitarbeiter. Das ist eine Überproportionierung der Bürokratie.
Der Gesundheitsfond als weitere Bürokratisierungsmaßnahme, der sowohl von der Ärzteschaft als auch von den meisten Institutionen des Gesundheitssystems kritisiert wird, weil er unnötig Geld verschlingt und keine Vorteile bringt, kostet allein in der Einführung 1,3 Mrd. Euro. Jedes Jahr verschlingt er dann weitere Unsummen, die anders besser genutzt wären. Kommentar von Focus online: „Höhere Kosten für weniger Leistungen“
Die Einführung der E-Card, die sowohl von Patientenverbänden wie auch von den Ärzten geschlossen abgelehnt wird, kostet nach Berechnung einer unabhängigen Wirtschaftsstudie bis zu 7 Mrd. Euro. Die laufenden Kosten sind nicht überschaubar. Würde man diese 7.000.000.000 (7 Mrd.) Euro auf die 134.000 bundesweit niedergelassenen Ärzte verteilen, so wären dies 52.238 Euro pro Arzt, wodurch über Jahre eine angemessene Bezahlung möglich wäre!
Krankenkassen bieten für ihre Versicherten „Wellnesgutscheine“ im Wert von bis zu 150 Euro pro Jahr an. Bei einem geschätzten Fallwert von 40 Euro würde ein Arzt denselben Patient dafür knapp 1 Jahr lang behandeln. Wellness ist nicht Aufgabe der Krankenkassen.
Es ist Geld da. Es wird jedoch für Projekte verprasst, die unnötig und teuer sind. Eine sinnvolle Umverteilung könnte die medizinische Qualität steigern und fördern, ohne dass die Patienten auch nur einen Cent mehr Kassenbeitrag zahlen müssten.


Privatisierung des Gesundheitswesens
Der freie niedergelassene Arzt ist nicht mehr gewollt. Er wird immer mehr in seiner Freiheit beschnitten und finanziell ausgeblutet. Ziel ist es, ihn ganz zu eliminieren. Es gibt viele Hinweise, dass das Gesundheitssystem privatisiert werden soll. Mit den Kliniken wurde bereits begonnen. Doch zur Komplettierung gehört auch der „ambulante Markt“.
Hier geht es um reine Wirtschaftsinteressen. Kliniken von privaten Trägern (Rhön, Sana, Asklepios u. s. w.) brauchen kontrollierbare Zuweiser. Der individuelle Arzt passt dabei nicht ins System.
Schauen wir in die USA, wohin die Privatisierung führt. Viele Patienten sind nicht mehr versichert, da sie es sich nicht leisten können oder von den Krankenkassen wegen ihrer Krankheiten nicht angenommen werden. Die Versicherungsprämien steigen ins Unbezahlbare. Dieser Weg führt in die Brutalität der Entsolidarisierung. Schauen Sie sich den Film „Sicko“ von Michael Moore an. Dort werden uns die Folgen des amerikanischen Systems vor Augen geführt. Es sterben Menschen, weil sie sich den Aufenthalt im Krankenhaus nicht mehr leisten können. Patienten rationieren ihre Medikamente, weil sie zu teuer sind, und leiden an den Folgen.
Unser Gesundheitssystem sei zu teuer, wird immer wieder behauptet. Die Kosten eines privatisierten Gesundheitssystems steigen ins Unermessliche, weil Gewinnmaximierung erklärtes Ziel ist. Und keiner kann den „neuen Markt“ kontrollieren. Die „Bankenkrise“ hat uns dieses Prinzip gerade schmerzhaft deutlich gemacht. Das amerikanische Gesundheitssystem gehört zu dem teuersten der Welt. (15,3% des Bruttoinlandsprodukt). Doch in der Qualität der WHO-Ranking Liste rangiert es auf Platz 37. In einem privatisierten System werden nur wenige Patienten gut versorgt, die meisten fallen unter den Tisch


Die Übernahme des Gesundheitsmarktes
Integrierte Versorgung heißt: alles aus einer Hand. Ein Unternehmen, das dies alles umfasst ist z. B in den USA „Kaiser Permanente“. Es besteht aus Krankenversicherung, Klinikbetreiber, Ärzteorganisation und Apothekenketten. In einer Fachtagung der Bertelsmann-Stiftung wurde dieses Unternehmen von Seiten der Bundesregierung als „besonderer Partner“ gelobt, „von dem man viel zur integrativen Versorgung lernen könne.“ Frau Schmidt schaut mit Bewunderung zu den Kapitalgesellschaften in den USA. „Die Richtung stimmt“ so hieß die Überschrift des betreffenden Vortrages von ihrem Mitarbeiter Franz Knieps, ehemals leitend bei der AOK, zu dieser Thematik. Doch sie stimmt nicht für uns Ärzte und nicht für unsere Patienten.
Auch in Deutschland sprießen Medizinische Versorgungszentren aus dem Boden, die von Investoren mit Kapitalinteresse finanziert werden (z. B. Sonic Healthware aus den USA oder Futurelab Holding aus Österreich oder auch hiesige private Klinikketten). Durchschnittlich werden 70 MVZs pro Quartal zugelassen. Von den 1152 MVZs waren 2008 allein 429 von Krankenhäusern betriebene. Dabei geht es immer um Profit, entweder direkt durch das MVZ, insbesondere bei Laborunternehmen, oder aber um „zuverlässige Zuweiser“ in die hauseigenen Kliniken. Ist eine Klinikkette Betreiber des MVZs baut sie sich dadurch ein stabiles Netz auf. „Wir wollen nicht mehr und nicht weniger als ein umfassendes Angebot einer Vollversorgung aufbauen, das die kompletten medizinischen Leistungen im ambulanten und stationären Bereich umfasst.“ (Wolfgang Pföhler, Vorstandsvorsitzender der Rhön-Klinik, 24.04.2008). Man schätzt, dass in etwa 10 Jahren nur noch 30% der niedergelassenen freien Praxen existieren werden. Der Rest wird dann unter den Investoren aufgeteilt sein.

Entsolidarisierung und Freiheitsverlust
Nur mit dem Blick auf die Vergangenheit (die Tendenz der letzten 20 Jahre) und den Blick auf die Hintergründe können wir die jetzigen Veränderungen richtig interpretieren. Der freie niedergelassene Arzt ist nicht mehr gewollt. Deswegen wird der Geldhahn kontinuierlich abgedreht. Da es aber immer nur ein kleines Stück ist, denken viele von uns „so schlimm ist es doch gar nicht“. „Ich habe bisher nach jeder Honorarreform überlebt“ sagt ein anderer. Schleichend, aber „die Richtung stimmt.“ Ausdünnen und Privatisieren, das ist die Marschrute. Und diese Tendenz zur Vermarktung des Gesundheitswesens, zur Dominanz von profitorientierten Fremdinteressen greift unser Gesundheitswesen im Ganzen und im Kern an: Entsolidarisierung und Freiheitsverlust sind die Konsequenzen.

Deshalb müssen wir jetzt grundsätzlichere Forderungen stellen. Wir tun dies im Hinblick auf die kommenden Jahre. Und wir tun dies, weil dieses Jahr als Wahljahr vielleicht die letzte Chance bietet, etwas im Kern zu verändern. Es geht um das Ganze.



Forderungen

1. Wir fordern den Erhalt des freien, selbstbestimmten, niedergelassenen Arztes sowie die freie Arztwahl für die Patienten.

2. Um dies auch weiterhin zu ermöglichen ist für die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Arztes zu sorgen. Dafür bedarf es einer ausreichenden und gerechten Honorierung. Die Honorare der Ärzte sollen für alle Patienten der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung nach der Gebührenordnung der Ärzte (GOÄ) mit den dort verankerten Steigerungssätzen berechnet werden. Es erfolgt eine jährliche Anpassung an die allgemeine Lohnentwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Eine Budgetierung der Leistungen ist damit abgeschafft.
Begründung: Jeder Arzt muss die durch die Krankheit des Patienten notwendigen Untersuchungen und Therapiemaßnahmen durchführen können und dafür eine angemessene Bezahlung erhalten. Jede Leistung muss vergütet werden. Es ist nicht nachvollziehbar, dass notwendige erbrachte Leistungen nicht bezahlt werden. Das Morbiditätsrisiko darf nicht bei dem Arzt liegen.

3. Eine „Budgetierung“ von Arzneien und Verordnungen wird abgeschafft. Der Arzt verpflichtet sich zur Wirtschaftlichkeit. Ein Überschreiten des Verschreibungsvolumens der Vergleichsfachgruppe muss begründet werden. Regresse werden nicht gestellt. Bei
überproportioniertem Überschreiten muss dies der Arzt im Rahmen der neuen Selbstverwaltungsgremien darlegen.
Begründung: Ein Arzt verschreibt die Medikamente, die für den Patienten notwendig sind, er verordnet die Heilmittel, die für die Genesung benötigt werden. Es ist absurd, wenn er mit seinem persönlichen Vermögen dafür haften muss.

4. Wir brauchen eine demokratisch legitimierte Selbstverwaltung. Die Kassenärztliche Vereinigung wird aufgelöst. Die Vorstände der Selbstverwaltung sind an die Entscheidungen der Vertreterversammlung gebunden und können auch von ihr durch ein Misstrauensvotum abgewählt werden. Vorstände müssen zu 50% ihrer Praxistätigkeit nachgehen.
Entscheidungen können auf Antrag der Mitgliedschaft (bei Antrag von 2,5% der niedergelassenen Ärzte) durch eine Abstimmung der Mitglieder gefällt werden. Sie sind dann bindend. Die Vorstände werden direkt von den Mitgliedern gewählt.
Die ärztliche Selbstverwaltung ist ein eigenständiges unabhängiges Gremium, das nicht an Vorgaben der Politik gebunden ist.
Begründung: Die sogenannte Selbstverwaltung (KV) wird von ihren Mitgliedern nicht mehr als Selbstverwaltung empfunden. Die Entscheidungen der KV spiegelt nicht die Meinung der Mitglieder wieder. Sie erscheinen allzu oft als Handlanger der Politik.
Die Mitglieder der Selbstverwaltung sollen weiterhin „Arzt“ sein, damit sie auch weiterhin im Erfahrungsfeld der ärztlichen Tätigkeit stehen.

5. Für die Qualitätssicherung in der ärztlichen Praxis ist einzig und alleine die neue Selbstverwaltung der Ärzte verantwortlich. Kontrollen und Einmischungen durch externe Organe oder gar Wirtschaftsunternehmen sind nicht zulässig.
Begründung: Unter dem Deckmantel einer externen Qualitätssicherung ist es den kontrollierenden Organen andernfalls möglich in illegitimer Weise mit eigenen Interessen (z. B. Wirtschaftsinteressen) auf die freie ärztliche Praxis einzuwirken.

6. Es besteht die Therapiefreiheit für den Arzt und die freie Therapiewahl für den Patienten. Medikamente und Leistungen der verschiedenen anerkannten Therapierichtungen müssen wieder erstattet werden.

7. Die Zulassung von Versorgungszentren ist nur durch Gremien der neuen Selbstverwaltung der Ärzte möglich
Begründung: Der freie und unabhängige Arzt ist Garant der hausärztlichen und fachärztlichen Versorgung. Versorgungszentren, die durch ihre Struktur auf eine Gewinnmaximierung durch fremde Investoren hinorientiert sind (z. B. private Klinikketten), gehen zu Lasten der Patienten und von uns allen. Andererseits können Versorgungszentren auch von Ärzten als eine Form der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gewählt werden. Deswegen ist eine individuelle Entscheidung für deren Genehmigung notwendig.

8. Eine Privatisierung von Krankenhäusern und öffentlichen Gesundheitseinrichtungen kann nur durch Mehrheitsabstimmung durch die betroffene Bevölkerung in regionaler Verantwortung genehmigt werden. Das Kriterium zu einer Genehmigung soll der Verzicht auf ein Gewinnmaximierungsprinzip sein.

9. Die gesetzlichen Krankenkassen unterliegen dem Solidarprinzip. Sie sollen treuhänderisch die Beiträge ihrer Mitglieder verwalten. Die Beitragssätze bleiben einkommensabhängig. Bei Krankheit sind die Krankenkassen verpflichtet, ihren Mitgliedern die finanziellen Mittel für ihre Genesung zur Verfügung zu stellen. Das Eingreifen in Fragen der Therapie ist ein Übergriff in das freie Arzt-Patienten-Verhältnis . Die Krankenkassen sollen zu ihren eigentlichen Aufgaben zurückkehren.
Das Anbieten von Wellnessurlauben, anderer Geschenke oder Boni, die insbesondere eine Werbung von bestimmten für sie attraktive Kunden fördert ist zugleich eine Bevorteiligung von Jungen und Gesunden und damit auch Benachteiligung von Alten und Kranken und muss deshalb untersagt werden.

Wird diesen Forderungen nicht entsprochen, so werden wir ihnen Nachdruck verleihen. Dazu dienen vielfältige Aktionen, die die Verantwortlichen in der Politik und bei den Krankenkassen aufwecken werden. Vom Streik bis zum Systemausstieg ist alles drin. Wir werden die Bürger mobilisieren, denn diese sind die eigentlichen Betroffenen der jetzigen und vergangenen Gesundheitspolitik. Das Jahr 2009 ist Wahljahr.

Zusammenhalt
Lassen Sie uns in dieser Situation zusammenstehen. Lassen wir uns nicht spalten, in verschiedene Fachgruppen, Interessen und Berufsverbände. Wir müssen jetzt handeln. Schon im nächsten Jahr sind neue Weichen gestellt, die unser Überleben noch schwerer machen. Und einige unserer Kollegen haben dann die Praxen schon geschlossen.

Besinnung auf die eigene Kraft
Doch lassen Sie uns bedacht und konzertiert vorgehen. Es darf kein Strohfeuer entstehen wie z. B. im letzten Jahr. Lassen wir uns nicht vertrösten und hinhalten durch irgendeine „Konvergenzlösung“, d. h. Scheinlösung bis nach der Wahl.
Wir sind die Ärzte an der Basis. Wir haben die Macht. Auch in der ehemaligen DDR hätte man zuvor nie geglaubt, dass jeder Einzelne ein Teil einer friedlichen Revolution sein könnte. Doch es wurden mehr und mehr Menschen, bis das Volk friedlich etwas bewegte und sich die Welt veränderte. 1989 war ein Systemausstieg.

Handeln im Zusammenschluss mit den Patienten
Jeder von uns hat durchschnittlich 800-1200 Patienten hinter sich. Wir müssen sie mit ins Boot nehmen. Nur im Schulterschluss mit ihnen werden wir die Interessen für ein gesundes Gesundheitssystem durchsetzten. Dafür fordern wir unsere wirtschaftliche Unabhängigkeit und damit für den Patienten die freie Arztwahl und Therapiefreiheit. Wir haben uns oft artikuliert, wir wurden nicht gehört, unsere Worte wurden verdreht und wir wurden von den Medien ignoriert. Wir müssen handeln, jetzt und im Zusammenschluss mit unseren Patienten, mit den Bürgern unseres Landes. Wir können viel erreichen. Und denken Sie auch an die nachfolgende Generation. Schon 70% der jetzigen Medizinstudenten wollen ins Ausland. Wir lassen uns unseren Berufsstand und unser Gesundheitssystem nicht ruinieren.

Wir alle sitzen im gleichen Boot
Unser Aufruf der „Jungen“ ist bewusst fachübergreifend. Er soll alle einschließen, auch die verschiedenen Berufsverbände. Er setzt sich nicht von anderen Initiativen ab. Doch wir wollen langfristige Änderungen, die die Qualität im Gesundheitssystem nachhaltig verbessern und nicht nur Makulaturen bis zur nächsten EBM-Reform. Wir wollen keine Kompromisse, die uns abhängig machen.


Unterstützung
Unterstützen Sie diesen Aufruf mit den dort enthaltenen Forderungen, in dem Sie ihn unterschreiben (Mitteilung mit Adresse als e-Mail: aerzte.2009@googlemail.com oder Fax: 07321-949311 oder per Post an obige Adresse). Und verbreiten Sie ihn (per Fax, per Mail, per Brief, kopieren Sie ihn).

Die nächsten Schritte
Wir werden uns mit den Patienten verbünden und gemeinsam mit ihnen unsere Forderungen nach einem gesunden Gesundheitssystem an die Politik richten.

Gemeinsame Aktionen
Die angekündigten Aktionen werden vielfältig sein. Wir können sie nur gemeinsam stemmen. Dafür werden wir uns mit allen koordinieren (Berufsverbänden, örtliche Ärzteorganisationen, Einzelärzten, Patientenverbänden, Patienten-Bürgerinitiativen: www.patient-informiert-sich.de u. s. w.). Wir alle müssen sie „von unten“ regional organisieren, z. B. landkreisweit, ein oder mehrere Bundesländer/KV-Bezirke (z. B. Baden-Württemberg, Bayern, Westfalen Lippe, Schleswig Holstein, Saarland, …)

Wir sind die Basis. Und nur von der Basis geht die Kraft zur wirklichen Veränderungen aus.
Und sie ist notwendig, jetzt.


Mit freundlichen kollegialen Grüßen


Dr. Ulrich Geyer, hausärztlicher Internist, Heidenheim; Dr. Andreas Laubersheimer, Allgemeinmedarzt, Heidenheim; Carmen Eppel, Frauenärztin, Heidenheim; Dr. Ulrike Geyer, Allgemeinärztin i. A., Heidenheim; Dr. Jens Edrich, Allgemeinarzt, Heidenheim; Urte Riggers, Allgemeinarzt i. A., Aalen; Dr. Robert Fitger, Neurologe i. A., Heidenheim; Dr. Holger Antropius, Allgemeinarzt, Stuttgart; Dr. Friederike Maercklin, Allgemeinarzt i. A., Hamburg; Christiane Kruckelmann, Frauenärztin, i. A. Wuppertal; Dr. Dörte Tillack, fachärztliche Internistin, Haslach; Stephanie Rausch, Allgemeinärztin, München; Dr. Klaus Kramer, Chirurg, Ulm; Almut Flebbe, Allgemeinmärztin i.A., Heidenheim; Dr. Volker Kirschner, Frauenarzt, Heidenheim; Dr. Kai Näbert, Allgemeinarzt i. A., Heidenheim; Christina Spitta, Allgemeinärztin i. A., Heidenheim; Manuel Doman, Allgemeinärztin i. A.; Dr. Tobias Daumüller, Weimar, Internist i. A..
(i. A. = in Ausbildung)